Tag 7 – Von Lenggries nach Mühlbach/Pustertal

Mittwoch, 17. Juni 2015

Der
Plan

50 km mit dem Rad von Lenggries nach Mittenwald, Bahn nach Innsbruck, S-Bahn auf den Brenner, Rad soweit die Füße tragen in Richtung Süden

Wie es war, was geschah

„Der große Sprung“, der Tag der bisherigen Tage, die größte Mogelpackung, was das Sportliche angeht, aber mit grandiosen Erlebnissen. Angekommen südlich der Alpen, die Drauquellen in Schlagweite. Ein Tag gut für 3 Tage, an dem es abends schwer fällt, sich noch im Detail an die ersten beiden Teile zu erinnern. Hier der Versuch (Fotos in einem zweiten, separaten Beitrag, da das Einfügen in den Text nervt und Formatierungsprobleme verursacht):

Lenggries – Mittenwald

Abfahrt 7.50 Uhr, nach einem Frühstück unter südtiroler und salzburger Montagearbeitern, die weit voneinander sitzen und kein Wort miteinander reden. Die Tiroler schalten demonstrativ auf gutturales Italienisch. Fahrrad mit Handfeger von den Relikten Grünwalder und Tölzer Schlamms befreit. Es ist frisch, ich lege die Beinlinge und einen Überwurf an.

Der Weg geht entlang der Isar, ein paar Meter über Split, schnell aber auf eine asphaltierte Piste parallel zu einer Autostraße. Fast immer auf Flussniveau. Es ist alles etwas verhangen, erst zu Mittag wird es in Mittenwald zum ersten Mal richtig sonnig sein. Immer wieder Blicke auf ein engeres, mal breiteres, völlig planes Kiesflussbett, in dem sich die Isar je nach Wasserstand und Jahreszeit einen immer neuen Weg sucht. Die angrenzenden Berge mal nah, mal weiter, mal steiler, mal flacher. Die Felsgipfel des Werdenfelser Landes sind zu erahnen, aber nie zu sehen. Meine weitere Route einschließlich der Bahnfahrt wird mich stundenlang um die Zugspitze führen, die ich aber nicht einmal zu sehen kriegen werde. Links und rechts Wiesen und lichte Fichtenwälder, brusthohes tropfnasses Gras, viele auffällige Blüten, gelb, purpur, rosa, von denen ich die Namen der Pflanzen gerne wüsste.

Nach einem größeren Stausee (Sylvensteinsee) ist die reguläre Autostraße bei Vorderriss zu Ende, es gibt nur noch eine einspurige Mautstraße, auf der wenig Verkehr ist und die von mir und vor allem von Menschen mit Leihrädern – „Euro bike“ – befahren wird. Vor mir plötzlich eine penibelst gemähte Wiese ohne Fleckvieh und Kuhdung, aber mit Fähnchen und Caddies. Das mir neue magische Wort heißt Almengolf. Und ich bin in Wallgau angelangt, das mir einen sehr noblen Eindruck macht. Ab jetzt wird es auch voll touristisch, immer pittoresker.

In Wallgau entledige ich mich einer Altlast und schicke mein altes Tablet mit der Post auf die Heimreise. Nach weiteren 30 Minuten grüßt Mittenwald zunächst wenig spektakulär mit Bundeswehrwohnblöcken und einer humorlos begradigten Isar. Erst in der Dorfmitte lässt es die Hüllen fallen und zeugt seine touristischen Reize: gemalte Häuser und jetzt vor allem Sonne und noch mal Sonne, die aber die Wolken um die Zugspitze immer noch nicht vertreibt. Außerdem ist Mittenwald eine Art Freiluft-Alten-und-Pflegeheim passenderweise mit einer Filiale der Drogerie Müller, die mich mit Schokolade und frischem Trinkwasser versorgt. Ich bin nicht sicher, ob man hier U80 überhaupt (überhaubt?) schon legal existenzberechtigt ist. Aber ich bin angetan und froh zu wissen, wo man später mal hin kann.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, mich nun doch mit dem Rad die nur noch wenigen Kilometer nach Leutasch hochzuquälen und damit eine Bergquerung komplett ohne Hilfsmittel zu absolvieren. Aber die Konsequenz wäre entweder den berüchtigten Zirler Berg nach Innsbruck hinab fahren oder über Telfs einen Umweg von 30 km durch das Inntal in Kauf nehmen zu müssen. Aber ich bin so auf das Tagesziel Südtirol fixiert, dass ich die Idee verwerfe und mich zum Bahnhof begebe.

Bahnfahrten von Mittenwald zum Brennerpass

Spektakulär geht es los, hoch in Richtung Seefeld, wo die Bahn links um die Zugspitze ziehend bei Oberzirl den höchsten Punkt der Strecke nach Innsbruck erreicht und langsam wieder ins Inntal absteigt. Ab hier wird mir ziemlich blümerant und rührselig. Mich holen Stolz und Verwunderung ein, dass ich es mit dem Rad und ein wenig Unterstützung der Bahn schon einmal bis hierher geschafft habe: an Orte und Panoramen, die ich Dutzende Male aus dem Auto gesehen habe, die aber auch fest mit einer Autoreise verbunden sind. Aus dem Zug sehe ich wie aus dem Flugzeug unter mir das breite Inntal, den Innsbrucker Flughafen, den Bergisel, die Sprungschanze, weiß auch wo trotz der Wolken die Stubaier sind, die Serlesspitze – einer meiner Lieblingshinguckberge seit Skiferien in Steinach am Brenner, mit Himalaya-Franzl als Skilehrer – wo es hinauf zum Brenner geht. Ich sitze im Zug und bin überwältigt. Und mir ist plötzlich völlig egal, dass ich nur im Zug sitze, statt zu radeln. Völlig. Ich kann mich mal.

In Innsbruck nur kurzer Aufenthalt auf dem Hauptbahnhof, Bahnsteigwechsel, die S-Bahn kommt aus Hall und fährt bis zum Grenzbahnhof Brenner/Brennero. Sie ist auf ihrem Weg nach Patsch, unter der Europabrücke hindurch, weiter nach Matrei, Steinach und Gries voll von Schülerinnen auf dem Heimweg in die Dörfer. Unterwegs bilde ich mir ein, kurz die Serles gesehen zu haben, bin aber nicht sicher. Sicher bin ich mir aber bei der Skiwiese oberhalb Steinach, auf der mich einmal in den frühen achtziger Jahren zu meiner Verärgerung ein Holländer namens Fred, der eigentlich ein eher grobschlächtiger und plumper Skifahrer war, auf dem letzten Meter abgehängt hat, nur weil er 110 Kilo wog. Zu der Zeit dieser Schande meines Lebens maß ich noch zarte 70.

Ankunft Brenner, die Atmosphäre da oben wie schon immer die letzten 50 Jahre: alles schmuddelig, geschäftig, unterkühlt. Früher war das eine Staats-, Sprach-, Zoll- und Währungsgrenze, davon zeugen all die Gebäude und Reste von Kontrollstellen, Blechverschläge, Leitplanken. Was es heute offiziell ist, weiß ich nicht wirklich, doch mich überkommt eine Ahnung. Trotz niedriger Temperaturen halten sich in allen möglichen Ecken und Unterführungen auffällig viele unauffällige Afrikaner auf und laufen Gruppen italienischer Polizisten umso auffälliger herum. Noch ist das eine Grenze, zumindest für manche.

Brenner bis Mühlbach im Pustertal

Wieder auf dem Rad, zunächst mit warmer Jacke und Überhandschuhen. Strammer Wind, zumeist von hinten, die Grashalme biegen sich flatternd. Die Sonne wird immer kräftiger, wir sind in Italien. Oder doch genauer SÜDTIROL. Man riecht und fühlt es zunehmend. Eine alte Eisenbahntrasse führt mich nach Sterzing. Gelegentlich geht es doch auf die Staatsstraße, die aber an diesem Tag nur sehr schwach befahren ist und den Vorteil hat, dass sie grundsätzlich immer bergab geht und auch oft einen abgemalten ein Meter breiten Seitenstreifen. Nach Sterzing verzichte ich später ganz auf den Radweg, der Umwege in Seitentäler macht und ständig giftig durch Einzelgehöfte und kleine Dörfer am Hang auf und ab führt.

Kurz vor Sterzing bin ich aber schon so relaxt, dass ich mir angesichts einer Fahrahrradwerkstatt die Zeit nehme, endlich meinen defekten Flaschenhalter auszutauschen. In Sterzing selbst ist mir dann alles Mortadella, wie weit ich noch kommen will, dass ich nur auf der Durchreise bin. Ich schalte auf schwarzwälder Kirschtorte und Cappuccino. Zum ersten Mal auf dieser Reise sitze ich in der Sonne, ohne Hummeln im Hintern und das Gefühl, dass ich gehetzt gleich weiter muss oder will. Gerne würde ich in Lire bezahlen. Die warme Kleidung ist für den Rest des Tages hinfällig.

Die weitere Fahrt nach Mühlbach über Franzensfeste ist nach dann doch über 90 km im Sattel – trotz Bahn! – ein wenig mühsam, aber ich werde immer wieder von vertrauten Anblicken verzaubert und ermuntert: Plose, Gitschberg, darüber Meransen am Hang, ein wenig Schlern, eine nicht zuordenbare Dolomitenspitze. Schließlich die schon verlogen kitschige Einfahrt über einen Waldweg von oberhalb ins voll in der Sonne liegende Mühlbach. Auf dem Rathausplatz heißt das eine von zwei Hotels „Seppi“. Ein Blick, eine Frage, genau das ist es, das passt, auch der Wirt. Es sieht aus wie in jedem beliebigen Südtiroler Dorfgasthaus, es gibt Forstbier, aber genau deswegen fahren manche Menschen ja jedes Jahr und immer wieder hierher. So wollte ich das, so soll es sein.

Bei vorzüglichem Lagreiner, einem Salat und einer Portion Schlutzer mit ordentlich brauner Butter sitze ich noch lange vor dem Hotel auf dem Platz und lasse mich baumeln. Auf dem Zimmer kaue ich bei einem völlig unbedeutenden U21-Länderspiel noch die komplette 350-Gramm-Packung Tiroler Speck weg, die ich unterwegs in einem schicken Schinken-Outlet vorsorglich gekauft hatte. Die Fahrt zehrt, der Körper verlangt Futter.

Morgen sehe ich, wie sich der ausgewiesene Radweg das Pustertal aufwärts bis Toblach/Innichen gestaltet, wie weit in komme, wie weit ich mich quälen mag, ob eventuell auch hier die reguläre Straße eine Alternative ist, ob ich eine weitere Übernachtung auf diesem Teilstück mache oder noch einmal die Bahn beanspruchen muss. Nach dem Frühstück geht’s los, wir werden sehen.

Zahlen

Tageskilometer:  95 echte Kilometer mit dem Rad + 2 Stunden Bahn + ein kurzer Bahnsteigwechsel in Innsbruck
Gesamtkilometer: 518,63 km