Von der roten Mainquelle abwärts (Etappe 3)

5. Juli 2019

Am Morgen wie ein Schluck Wasser durch Alt-Bamberg geronnen und in einer guten Stunde die Beine zunehmend locker geschlendert. Das Versäumnis von gestern, den ganzen Tag nichts gegessen zu haben, wird sich heute nicht wiederholen. In der 3-stöckigen und durchgängig verspiegelten Drogerie M. lege ich mir ein paar Riegel zu, einer davon mit gleich „40% Protein Banane“, und eine Flasche Wasser.

Der vorbereitende Blick auf die Landkarte zeigt, dass es heute kaum weiter gehen kann als Schweinfurt. Das sind so 60, 70 km. Danach scheinen die Streckenführung und die Entfernungen in die weitere Richtung Volkach, Kitzingen, Dettelbach wegen der ausufernden Mainschleifen unwägbar, auch weist die Ähb dort nur wenige und unerfreulich teure Unterkünfte nach, oft auch noch weit abseits der Strecke. Hinter Schweinfurt wäre heute also möglicherweise ähnliches Niemandsland wie gestern hinter Lichtenfels. Das will ich dann lieber erst morgen betreten.

Eine weitere Sicherung gegen meinen radfahrlässigen Leichtsinn ist, dass ich erst spät am Vormittag losfahre. Ich habe also Zeit und entdecke in einem Antik-Laden neben dem Hotel den schönsten Farbholzschnitt der Künstlerin Barbara Popp, den ich jemals gesehen habe. Leider lehnt die Inhaberin einen Postversand nach Frankfurt wegen der Rahmung hinter Glas ab und ausgerahmt und eingerollt mag ich das Blatt nicht auf dem Fahhrad speditieren. Wir tauschen Visitenkarten, aber das Bild bleibt hier.

Nun ja, wenigstens für unbestimmte längere Zeit. Um 11:20 Uhr bezahle ich vom Fahhrad herab und bereits für die Fahrt voll aufgetakelt, verspreche die Grafik in den nächsten Jahren abzuholen oder abholen zu lassen und fahre los.

Fahrt Bamberg stadtauswärts entlang der Regnitz, größerer unübersichtlicher Hafenanlagen und des zufließenden Mains in eine vorerst nur als richtig vermutete Richtung. Erst bei Viereth Gewissheit durch über die Staustufe donnerndes Wasser, dass es flußabwärts geht. Wenig fließt hier ansonsten sichtbar und der Gegenwind kräuselt das Wasser entgegen der Fließrichtung. Der Main ist jetzt kein natürlicher Fluss mehr, sondern eine endlose Kette schmaler, dafür um so längerer Staubecken, schiffbar und reguliert. Er sieht jetzt schon so aus wie an jeder beliebigen Stelle am Unterlauf, sagen wir Wertheim, Obernburg, Großkrotzenburg, Okriftel.

Dafür ist der Radweg jetzt fast durchgängig eben. Erlebnisse an der Strecke beschränken sich auf mit Tempo 30 entgegenkommende, wie auf einem Kreidler Florett schrägliegend die Kurve schneidende E-Biker, Herren Mitte 50 ohne Helm. Die sind schon so gefahren als sie noch das Moped hatten. Und gelegentliche Radlergruppen, die an Übergängen und Abzweigungen klumpen. Dann passiere ich in Eltmann ungläubig ein „Einkaufs & Therapie-Zentrum“. Wie beneidenswert unpragmatisch man doch das Praktische mit dem Nützlichen verbinden kann. Die Schelmen sollen nur aufpassen, dass ihnen die „&“ und „-“ nicht ausgehen, sonst geht’s ab in die Familienaufstellung mit Einkaufswagen.

Beim ersten Anflug eines Hungergefühls lege ich unterhalb eines Sportplatzes, neben einer vom Fanclub Ostkurve des FC Sand errichteten Klein-Kapelle, in der innen bei geöffneter Tür Wachslichter flackern („Bitte keine großen Kerzen abbrennen!“), unverzüglich unter einer mächtigen blühenden Linde eine Pause ein und opfere den Riegel „40% Protein Banane“. In Sand auch ein Schild, das die hiesige Region als neuen Stern am fränkischen Weinhimmel ausweist. Noch hat praktisch jedes Nest eine eigene Brauerei, aber das klassische Weinfranken rückt näher.

Die Natur ist trotz der weitläufigen grünen Auen und großer Gruppen von Nilgänsen deutlich sparsamer als an den Vortagen, deutlich von Landwirtschaft geprägt oder als Freizeitgelände gestaltet („Liegenverleih“). Ein Storch und ein Reiher fliegen vorbei. Es gibt außerdem augenscheinlich unterhalb Bamberg heuer reichlich Haselnüsse, die bereits in voller Größe, aber noch hell an den Büschen hängen. Und immer wieder verhutzelte Süßkirschen, die niemand geernet hat, an den Bäumen hängen oder zu dunkelroten Flecken auf dem Asphalt ausgewalzt sind. Von den noch nicht abgemähten reifen Getreidefeldern und trockenen Wiesen liegt der typische Staub in der Luft, der Mund und Rachen trocken belegt. Roggen und Gerste. Der Mais ist allerdings noch saftig grün. Die Dörfer werden eintöniger, nicht mehr so gemächlich wie im bayreuthischen Oberfranken. Die Wiesen gehen nicht mehr bis an die Haussockel. Dort sind jetzt Lichtschächte und Kiesel an den Bungalows, hinter den Jägerzäunen dominiert der kultivierte Rasen mit Kurzhaarschnitt. Der Radweg entlang der Eisenbahn ist typisch gesäumt von Disteln, Brennesseln, gelben Gräsern und meterhoch aufgeschossenem Sauerampfer, dessen bereits etwas ledrige Blätter aber immer noch lecker schmecken.

Kurz vor Haßfurt ein Sportflughafen, ein Kleinflugzeug, das sehr an einen Messerschmidt-Kabinenroller mit Flügeln und angeklebtem Schwanz erinnert, hebt ab und schwebt davon. Im Ort dann nach knapp 40 km um 14:00 Uhr Pause im Eiscafe:

Noch 23 km bis Schweinfurt. Das passt für heute, weiter werde ich nicht fahren.

Dann rollt und rollt es wieder dahin, Minute für Minute, Kilometer für Kilometer. Reichlich Zeit für innere Gespräche, Monologe, Diskurse. Neben Überlegungen zur Streckenführung und der Tageseinteilung und ob ich nicht zuviel Gepäck dabei habe, gibt es die beiden traditionell dominanten und auf jeder längeren Radreisen wiederkehrenden Themen „Kann der Mensch auf dem Rad eigentlich auch einfach etwas langsamer und nur spazieren fahren?“ und „Warum tue ich mir das an?“. Das erste Thema war gestern schon unter dem Stichwort „Hamstertyp“ auf der Agenda und ist müssig. Natürlich kann man langsamer fahren, es liegt mir aber aus verschiedenen Gründe nicht. Sportler werden das kennen: es muss ein Maß Zug und Dynamik auf der Sache sein, damit es gleichmäßig rund läuft. Einfach eine Mentalitätsfrage.

Das zweite Thema ist damit verbunden und für mich zu schnell beantwortet mit „Ich will mir etwas beweisen“ (das Alibi „schöne Landschaften entdecken“ lassen wir gleich beiseite). Ich würde es lieber nicht „beweisen“ nennen, sondern „Gewissheit erlangen“, und zwar über mich selbst. In Zeiten, in denen alle natürlichen Maßstäbe verloren gegangen sind, in denen man von Flugzeug, Auto, Bahn und Öffentlichem Nahverkehr anstrengungslos und wie selbstverständlich an jeden beliebigen Ort der Welt verfrachtet wird, in Zeiten, in denen Hausfrauen auf dem Dorf 200 m mit dem Auto zum Bäcker fahren, andernfalls sie erschöpft schon auf halber Strecke vor dem Metzger zu Boden stürzen drohen, in solchen Zeiten brauche ich wiederkehrende Gewissheit, was ich nur allein mit eigener Kraft zustande bringen kann. Oder so ähnlich.

Schon bald vor den Toren Schweinfurts angekommen wuchert das Thema noch etwas aus: Die großen Heldentaten der Menschheitsgeschichte waren nicht die Mondladung und die sibirische Eisenbahn, sondern die Handelsreisen zu Fuß der frühen Neuzeit zwischen Irland und dem Nahen Osten. Tausch von Bernstein gegen Metall auf jahrelangen Unternehmungen, die man schwerlich mehr als einmal im Leben machen konnte, wenn man denn überhaupt den gleichen Weg ein zweites Mal gefunden hätte. Die Himmelsscheibe von Nebra ein komplexeres Wunder als ein Atomkraftwerk?

Noch rechtzeitig bevor es pathetisch wird beendet die jetzt immer lockerer werdende Lenkerstange alle Kopfreflexmassagen und verlangt nach einem Inbusschlüssel. Jetzt zahlt sich das mitgenommene schwere Werkzeug aus. Alles dabei, nur nicht dieser Schlüssel. Wer sich jetzt nicht ärgert ist ist ein Buddha oder Operettensänger: „Immer nur Lächeln …..“.

Schweinfurt gegen 17:00 Uhr, die Stadt taucht aus dem Nichts auf als der vollständig meterhoch wie ein Tunnel grün verwucherte Rad plötzlich auf einen normalen Gehweg mündet. Viel Grün am Ufer, mehrere Mainarme, Auen, Teiche, Schwäne, Enten, eine kleine Altstadt. Harmlos, freundlich.

Die Zahlen des Tages
Was der Tacho spricht

Tagesstrecke: 63,3 km
Fahrzeit (ohne Pausen): 3:54 Stunden
Durchschnittsgeschwindigkeit: 16,23 km/h
Maximale Geschwindigkeit: 36,57 km/h
Kalorien: 665