WEIN (4): Dem Stock Nr. 7 zum Abschied tief in die Augen geschaut

7. April 2018

Stock Nr. 7 in der äußeren rechten Reihe hat ab sofort ein grünes Schleifchen und steht unter besonderer und dauerhafter Beobachtung.

Leider haben unsere – gleichwohl selbst gewählten – Lebensumstände zur Folge, dass wir den Weingarten erst im Juni wiedersehen, morgen geht es zurück nach Frankfurt. Hier an den Weinstöcken werden sich in den kommenden Wochen wundersame Dinge ereignen, die aber unsere Anwesenheit nicht zwingend erforderlich machen.

Ich dokumentiere jetzt abschließend auf Fotos den heutigen Entwicklungsstand von Stock Nr. 7, beispielhaft für alle übrigen. Nach Rückkehr im Juni  fotografiere ich die gleichen Stellen, so dass man wird sehen können, was in der Zwischenzeit passiert ist. Nr. 7 wird dann nicht wieder zu erkennen sein.

Heute präsentiert er sich noch als nacktes, laubloses Holzstäbchen, das aus einem etwa 60 cm hohen strubbeligen, verholzten Stamm herauswächst und leblos wirkt. Aber aus vielen Schnitten am Stock, die wir mit der Rebschere hinterlassen haben, tropft glasklarer Saft. Der Stock ist aktiv, die Wurzeln drängeln.

Auf der gebogenen Rute von Nr. 7 gibt es Verdickungen im unregelmäßigen Abstand von 7-12 Zentimetern („Internodien“). Wer genau hinsieht erkennt, dass diese „Augen“ schon anschwellen. Sie sind noch ein gutes Stück vor dem Aufplatzen und der Entwicklung neuer Triebe, Blüten und Blätter, aber doch deutlich über die Winterruhe hinaus. Als Nr. 7 im vergangen Jahr noch ungebogen und senkrecht zwischen den Drähten stand,  waren dort wo jetzt die Augen sind, Blattansätze oder Trauben. Für dem jeweiligen Entwicklungsstand eines Rebstockes im Verlauf des Jahres gibt in der Welt der Winzer jede Menge Bezeichnungen, sogar einen Zahlen-Code (s. https://de.m.wikipedia.org/wiki/BBCH-Skala_für_Weinreben), wir sind jetzt etwa bei „01“. Feine Differenzierungen sind für den Erwerbswinzer so wichtig wie die 1.000 Arten von Schnee für den Inuit, er muss spezifisch und schnell auf jede Störung beim Pflanzenwachstum reagieren. Weil wir keine Eskimos sind, belassen wir es für uns bei grobschlächtigen  Vereinfachungen wie eben Auge, Knospe, Blüte, Blätter, Trauben.

Wie wird Nr. 7 im Juni aussehen und was passiert bis dahin? Aus jedem Auge wird eine Knospe geworden sein, die aufplatzt, kleine zartgrün pelzige Triebe brechen hervor, an der Spitze zunächst noch eingerollte Blätter, aber mittendrin auch schon das „Geschein“, die Vorform der Blüte. Genau in diesem Moment bitte keinen Nachtfrost, sonst stirbt der Trieb ab. Der Stock rettet sich zwar, indem er „schlafende Augen“ aktiviert und noch einmal austreibt. Den daraus entstehenden Trauben fehlen aber im Herbst des Jahres wichtige Tage oder gar Wochen zum Ausreifen. „Time is sugar“, keine Frage.

Wenn die Gescheine diese kritische Phase überstanden haben, werden sie sich grazil entfalten, über dem Weingarten liegt ein dezenter Blütenduft. Die Triebe haben sich lang gestreckt und tragen Blätter. Man freut sich, hantiert aber besser nicht allzu viel an den Pflanzen herum, denn es droht ohnehin schon die „Verrieselung“ durch Wind, Starkregen und Hagel. Erst wenn die winzigen Fruchtansätze nach Wochen zu schrotkorngroßen grasgrünen Beeren geworden sind, die von gesunden Blättern ernährt werden, ist das Gröbste für dieses Jahr geschafft, von alleine fällt nicht mehr herunter. Dann müssen die Trauben nur noch mit viel Sonne ausreifen und nicht vom Fuchs gefressen werden.

Ich gehe davon aus, dass bis Ende Juni die eigentliche Blüte abgeschlossen ist und man den Trieben, von denen heute noch nicht eine Spur zu sehen ist, ab Mai beim Wachsen zusehen kann. Sie werden schnell 80, 120, 140 cm lang sein und hätten schon längst am Draht festgebunden werden müssen, damit sie möglichst gerade nach oben wachsen. Da können wir aber nur auf den lieben Nachbarn hoffen, der täglich unser Grundstück auf dem Weg zu seinem Garten quert und den die nicht zu übersehende Haltlosigkeit unserer nach unten hängenden Triebe dauert. Er gibt ihnen mitunter um die Blüte herum auch etwas von seiner Spritzbrühe ab. Unsere Rebsorte ist zwar der Papierform nach pilztolerant, aber unverwundbar ist sie in keinem Fall.

Die Triebe werden übrigens im unregelmäßigen Abstand von 7-12 Zentimetern Verdickungen haben. An der ersten und zweiten Verdickung werden Blätter stehen, an der dritten und vierten die Fruchtansätze, an der fünften und allen folgenden wieder Blätter. Im kommenden Winter fallen die Blätter ab und das nackte Holz bleibt stehen. Zurecht gestutzt kann daraus wieder so eine gebogene Rute werden wie sie hier am Anfang beschrieben ist. Alles beginnt von vorne.

In diesem Juni werden wir aber erst einmal überschüssige Triebe „ausbrechen“. Heute hat der Stock nämlich noch alle möglichen Augen und Knospen, die wir auf keinen Fall alle brauchen und wollen. So eine Art Sicherheitsreserve, siehe Frost, Hagel und Verrieselung.

Mit diesen Vorhersagen und Hoffnungen lassen wir also Nr. 7 und seine 110 Brüderchen und Schwesterchen auf sich alleine „und uns‘ren lieben Nachbarn auch“ gestellt zurück und verabschieden uns.